Agile Organisation oder das Ende modellierter Führungs- und Unterstützungsprozesse

Organisation 3.0: Prozess-, Projekt- und Agile Organisation im Einklang
Organisation 3.0: Prozess-, Projekt- und Agile Organisation im Einklang

Ich würde einiges darauf verwetten, dass in Ihrem Unternehmensprozessmodell in den Kategorien der Führungs– und Unterstützungsprozesse weitgehende Leere herrscht, oder? Auf jeden Fall wären Sie in guter Gesellschaft: Bei fast allen mir bekannten Prozesslandkarten ist in den letzten Jahren viel Aufwand in die Modellierung der Kernprozesse geflossen. Geht es aber darum Prozesse wie Strategieformulierung, Personalentwicklung oder juristische Beratung in einen Folgeplan zu bringen,  tun sich die Unternehmen schwer. Warum ist das so? Und ist das überhaupt schlimm? Oder war vielleicht der Ansatz von Anfang an verkehrt? Aber der Reihe nach …

Traditionell  bedeutet Organisation die Festlegung allgemeiner, dauerhafter Regelungen für viele gleichartige, immer wiederkehrende, planbare Prozesse. Mit Disposition ist die langfristige, situative Regelung für spezielle, planbare Fälle gemeint. Unter Improvisation versteht man die situative, spontane Regelung unplanbarer Abläufe.Was hat dieser historische Dreiklang von Organisation, Disposition und Improvisation denn mit der Vollständigkeit von Prozesslandkarten zu tun? Vor dem Hintergrund der agilen Bewegung bekommt diese traditionelle Unterscheidung aus der Organisationslehre meiner Meinung nach eine Renaissance.

Denn in der Tat haben wir es heute in der Praxis mit viel mehr Unvorhersehbarkeit zu tun als wir es wahrhaben wollen. Seien es technologische Innovationen, wirtschaftliche Krisen oder politische Ereignisse, egal in welche Lebensbereiche man schaut, sind Prognosen über die zukünftige Entwicklungen mehr denn je schwer bis unmöglich. Für Prozesse mit solchen instabilen Anforderungen und Rahmenbedingungen verbieten sich exakte Regelungen wie man Aufgaben wann zu erledigen hat. Es ist in jeder Situation Flexibilität gefragt. Auf Basis der Erfahrungen des vorangegangenen Schrittes und der Einschätzung der aktuellen Lage entscheidet man sich spontan für das weitere Vorgehen. D.h. mit anderen Worten, Improvisation wird hier zum Normalfall, Organisation zur Ausnahme.

Hinzu kommt, dass viele der in diesen Bereichen stattfindenden Prozesse kleine Losgrößen haben. Es fehlt also schlicht der wiederkehrende Charakter der eine dauerhafte allgemeine Regelung in Form eines Prozessdiagramms notwendig machen würde. Bisher werden diese einmaligen und seltenen Prozesse mit Methoden und Techniken des Projektmanagements organisiert. Anstatt Flowcharts nutzt man Balkenpläne, Fertigstellungstermine plant man über Meilensteintrenddiagramme und Budgets kalkuliert man über Aufwandsplanung. Aber auch hier erkennt man zunehmend, dass diese planungsgetriebene Vorgehensweise bei instabilen Anforderungen an Grenzen stößt. Aktuelle Studien zeigen, das die Unternehmen in unvorhersehbaren Umfeldern einmalige und seltene Prozesse erfolgreicher mit Methoden aus dem agilem Projektmanagement bewältigen. Oder im traditionellen Sinne könnte man auch sagen: Mehr Improvisation statt Disposition.

Nun ist es aber nicht so wie die bisherigen Ausführungen suggerieren, dass alle Führungs- und Unterstützungsprozesse unvorhersehbar und eher selten ablaufen. Selbstverständlich gibt es auch bei diesen Prozessclustern einzelne Abläufe die sehr wohl planbar sind und in größeren Mengen vorkommen. Dabei denke ich an so Unterstützungsprozesse wie Personalabrechnung, IT Service Management oder Rechnungswesen. Für diese Prozesse war und ist es sinnvoll, dauerhafte Regelungen zu schaffen, damit diese tagtäglich effizient abgewickelt werden.

Als Zwischenfazit kann man festhalten, dass die Unternehmen in der dritten Phase der Organisationslehre (Organisation 3.0) angekommen sind, bei der man die vorliegende organisatorische Situation dreigeteilt beschreiben kann:

Während die Prozess- und Projektorganisation in den vergangenen Jahrzehnten hinreichend beleuchtet wurde möchte ich mich im Folgenden näher mit der noch jungen Agilen Organisation beschäftigen. Ein geschlossenes Konzept zur agilen Organisation gibt es „noch“ nicht.  In der Praxis und in den bisherigen Publikationen werden immer wieder folgende drei wichtigen Bestandteile einer Agilen Organisation genannt:

1. Inkrementelles, iteratives Vorgehen
Bei der agilen Vorgehensweise versucht man gerade nicht, die Unvorhersehbarkeit und Komplexität zukünftigen Handelns durch ausgefeilte Pläne in den Griff zu bekommen. Es gibt also nicht erst größere Analysen und Konzepte bevor man diese dann Monate später realisiert. Vielmehr akzeptiert man, dass man nur auf kurze Sicht fahren kann. So wie man sich bei Nebel nur an die nächsten 50 m herantasten kann, ohne zu wissen wie es danach weitergeht. Durch ständiges Ausprobieren werden beim agilen Arbeiten immer wieder kleine Inkremente geschaffen, die einem Sicherheit für den nächsten Schritt geben. Es ist also ein feedbackgetriebenes Vorgehen bei dem das kontinuierliche Lernen im Fokus steht.

2. Timeboxing und andere Lean-Prinzipien
Ergänzt wird dieses empirische Vorgehen um Prinzipien aus dem Lean Management. Mit dem Timeboxing versucht man analog industriell getakteten Fließbandprozesse auch Dienstleistungsprozessen einen festen Rhythmus zu geben. In den immer gleich langen Sprints (2-4 Wochen) nehmen sich die Teams jeweils so viele Inkremente vor, wie sie auch tatsächlich aufgrund ihrer Kapazitäten und Fähigkeiten umsetzen können. Um dem One-Piece-Flow-Prinzip gerecht zu werden und keine Nadelöhre zu produzieren, konzentrieren sich die Teams darauf, möglichst wenige Aufgaben gleichzeitig zu bearbeiten und lieber einzelne Aufgabe gemeinsam final zu Ende zu bearbeiten (niedriger Work in process WIP). Schließlich wird so auch das Pull-Prinzip aus dem Lean Management berücksichtigt, indem man immer nur ein neues Arbeitspaket vom vorgelagerten Arbeitsschritt holt, wenn man dazu in der Lage ist, weil sein WIP-Limit unterschritten ist.

3. Selbstorganisation, Kommunikation und Vertrauen
Die dritte Komponente der agilen Organisation besteht aus einer Reihe von Werten, die im Kern alle etwas mit Kommunikation und Vertrauen zu tun haben. Alles was die persönliche Kommunikation untereinander und mit den Kunden fördert ist im Sinne der agilen Werte. Tägliche Meetings, mündlich abgestimmte Anforderungen, Feedback, Reflexion der eigenen Teamarbeit, Reviews oder Retrospektiven unterstützen Sender und Empfänger darin sich gegenseitig zu verstehen. Gesteuert wird das Ganze nicht durch hierarchisches “Befehl und Gehorsam“ sondern durch Eigenverantwortung. In dem den Teams vertraut wird, jederzeit situativ selbst zu entscheiden wie sie welche Aufgabe als nächstes angehen, entsteht die für die unvorhersehbare und komplexen Prozessen notwendige hohe Flexibilität und Problemlösungsfähigkeit.

Wer an konkreten Praxisbeispielen zur Agilen Organisation interessiert ist dem empfehle ich das ibo Trendforum „(Fr)agiles Management„.

Wenn ich nun wieder die Ausgangsfrage betrachte, warum Führungs- und Unterstützungsprozesse so selten in Prozesslandkarten modelliert werden, bin ich heute überzeugt, dass diese Anforderung bereits im Ansatz falsch war.  Die BPM-Gemeinde versucht zwar aktuell dem besonderen Charakter der Ad-hoc-Prozesse gerecht zu werden, indem sie mit neuen BPMN-Symbolen wie dem Ad-hoc-Symbol oder ganz neuen Notationen wie CMMN (Case Management Model and Notation) adaptive Abläufe in Prozessmodelle zu gießen. Siehe hierzu auch mein blog zu ACM, ECM, STP, MfG, ojemine … Es kommt auf den Prozesstyp an. Am Ende ist es meiner Meinung nach ein  aufwandsmäßig nicht zu rechtfertigender Versuch, eigentlich nicht vorhersehbare Abläufe in ein Korsett zu fassen.

Stattdessen bietet es sich an, die unplanbaren Prozesse mit agilen Techniken wie Scrum oder Kanban-Boards im Hier und Jetzt zu bearbeiten ohne auf vorgefertigte Ablaufpläne zurückzugreifen. Im IT-Bereich hat man dies längst erkannt und entwickelt heute Software meist mit der agilen Projektmanagement-Methode Scrum. Aber auch andere Bereichen wie Marketing, Produktmanagement oder Unternehmensstrategie sammeln zunehmend positive Erfahrungen ihre adaptiven Prozesse agil zu bearbeiten.

Prozesslandkarte differenziert nach Prozess- Projekt- und Agile Organisation
Prozesslandkarte differenziert nach Prozess- Projekt- und Agile Organisation

In der Konsequenz empfehle ich beim Aufbau von Unternehmensprozessmodellen gar nicht erst die vollständige Dokumentation aller Prozesse zu fordern. Vielmehr schlage ich vor, von Anfang an die identifizierten End-to-end-Prozesse danach zu differenzieren, ob sie in der Prozessorganisation, Projektorganisation oder Agilen Organisation abgewickelt werden. In der nebenstehenden Abbildung ist dies sowohl auf der obersten Prozessebene am Beispiel eines Energieversorgers als auch auf zweiter Prozessebene am Beispiel von Personalprozessen veranschaulicht.

Als die Sekundärorganisation vor mehr als 20 Jahren ihren Siegeszug antrat hörte man überall die Totgesänge auf die Primärorganisation nach dem Motto „Zelte statt Paläste„. Allen, die jetzt Loblieder auf die Agile Organisation singen und wieder das Ende der guten alten Linie ausrufen sei gesagt, auch die Tertiärorganisation wird nicht das Allheilmittel sein. Es wird nach wie vor und nach meiner Einschätzung sogar immer mehr Bereiche in Unternehmen geben, deren Routineprozesse systematisch standardisiert und automatisiert werden sollten. Effizienzgründe und immer bessere technische Möglichkeiten fördern diese professionelle auf Dauer ausgelegte Prozessorganisation.

Und auch für die klassische Projektorganisation in der Sekundärorganisation wird es weiterhin Anwendungsszenarien geben. Immer dort, wo es vorhersehbare Rahmenbedingungen gibt, ist ein planungsgetriebenes Bearbeiten einmaliger oder seltener Prozesse angebracht. Allerdings sehe ich hier, dass das eingeleitete Umdenken hin zu mehr feedbackgetriebenen Vorgehen weiter um sich greifen wird. Wie aufgezeigt, sind gerade Führungs- und Unterstützungsprozesse prädestiniert für die agile Organisation. Aber auch bei den Kernprozessen wie zum Beispiel der Produktentwicklung finden wir die Voraussetzungen für agile Arbeitsformen.

Fazit: Unternehmen sollten die Führungs-, Wertschöpfungs- und Unterstützungsprozesse ihrer Prozesslandkarte danach unterscheiden, in welcher Organisationsform (Prozess-, Projekt- oder Agile Organisation) sie diese bearbeiten wollen. Auch wenn es an sich schon herausfordernd genug ist, die drei Strukturen professionell zu organisieren liegt die Königsdisziplin darin, die Primär-, Sekundär- und Tertiärorganisation gleichwertig nebeneinander zu etablieren und kulturell zu integrieren. Das war und ist schon bisher mit den beiden Parallelwelten Linien- und Projektorganisation anspruchsvoll. Nun auch noch die agile Organisation daneben gleichberechtigt zu leben erhöht nochmals die Anforderungen an die Flexibilität von Unternehmen. Aber es lohnt sich mehrfach, nicht nur aus wirtschaftlichen Überlebensgründen, auch das Arbeiten in solchen Unternehmen wird attraktiver!

6 comments

  1. Sehr geehrter Herr Fischermanns, ein wirklich sehr gelungener und interessanter Beitrag! Viele Ihrer Aspekte bestätigen mich in meinen eigenen Erfahrungen, andere regen mich noch mehr zum Denken an.

    Ich gebe Ihnen absolut Recht, dass die Agilität ein zunehmend wichtiger Faktor auch im Prozessmanagement sein wird. Das ist besonders wichtig, weil in Zeiten des permanenten Wandels einfach oft auch keine Zeit mehr für klassische Methoden bleibt. Stichwort: „Manche Prozesse ändern sich schneller, als sie dokumentiert werden können“.

    Gerade die Dokumentation, Freigabe und Veröffentlichung von Prozesse ist hier ein gutes Beispiel. Stichwort: „Manche Prozesse ändern sich schneller, als sie dokumentiert werden können“. Bis ein Prozess mit allen Beteiligten aufgenommen ist, abgestimmt und ggfs. wieder überarbeitet ist, dann von allen Verantwortlichen geprüft und freibeben ist (normalerweise kommen dann hier auch nochmal 1-2 Schleifen Überarbeitung) und dann letztlich veröffentlicht ist, gehen oft Wochen, eher Monate ins Land. Warum nicht auch hier mal agil arbeiten, das heißt wenige Prozessschritte schnell „einführen“? Die Gefahr, dass an etwas nicht gedacht wurde, löst sich in der Regel in der Praxis schneller als am Reißbrett. Im Gesamten wird hier die Bearbeitungszeit wesentlich kürzer; dafür hat man direkt „aktuelle“ Dokumentation.

    Ebenso gebe ich Ihnen Recht, dass der Aufwand zur Erstellung von Ad-hoc Prozessen in perfekter „Ablaufform“ meist nicht gerechtfertigt ist. Hier muss sich der Anspruch dringend der Realität anpassen.

    Managementprozesse und Supportprozesse sind tatsächlicher Weise die oft leeren Flecken auf der Prozesslandkarte. Allerdings gibt es dafür meines Erachtens auch sehr einfach Gründe (ohne Ihre damit entkräften zu wollen): Wo fließt das ganze Geld für Optimierungsprojekte etc. hin? In die Kernprozesse! Klar also, dass dort die Dokumentationsdichte weitaus größer ist als in der restlichen Landkarte. D.h. hier sind meist die Projekte die Treiber zur Dokumentation bzw. Modellierung. Gäbe es diese nicht, wäre vermutlich das Gleiche der Fall, wie bei Management- und Supportprozessen: es fehlt an Ressourcen und Know-How zur Dokumentation. Das Tagesgeschäft führt. Eine Dringlichkeit ist nicht vorhanden.

    Prozesse „mit kleinen Losgrößen“ nicht zu dokumentieren halte ich auch für die falsche Lösung. Gerade hier ist es doch wichtig, dass Wissen über den Ablauf schnell verfügbar zu machen.

    Als Fazit kann auch ich nur sagen: Unternehmen müssen umdenken, um die immer größeren und immer schneller kommenden Herausforderungen bewältigen zu können, In wie weit dabei alte Muster ganz abgelöst werden, bleibt abzuwarten. Aber neue Methoden bieten definitiv gute Ansätze, sich dahingehend weiterzuentwickeln. Zudem müssen aus meiner Sicht die verschiedenen Managementmethoden wie z.B. Prozess- und Projektmanagement mehr miteinander verschmelzen. Diese werden heutzutage leider noch oft zu getrennt behandelt.

    Freundliche Grüße
    Bernd Ruffing

    1. Lieber Herr Ruffing,
      vielen Dank für ihr bestätigendes Feedback. Gerade zu Ihrem letzten Punkt passt es, dass wir uns in der GPM-Fachgruppe Projekt- und Prozessmanagement hierzu Gedanken machen. Das nächste Treffen ist am 17.4. in Frankfurt. Herzliche Grüße Guido Fischermanns

  2. Hat dies auf OrgPortal-Blog rebloggt und kommentierte:
    Agile Prozesse! Dazu braucht es ein agiles (wenn nicht völlig neues) Organisationsverständnis. Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie. Letztere findet nun endlich auch bei den „Praktikern“ Beachtung!

Kommentare sind geschlossen.