Prozessautomatisierung 4.0

Zugegeben, dieses Durchnummerieren ist albern, wer weiß schon was 1.0 war. Wobei, wenn ich so durchzähle war es am Anfang (1.0) das Begriffspaar „Sachmittel und Ablaufverbesserung“, dann (2.0) „EDV und Geschäftsprozessoptimierung„, bis vor kurzem (3.0) sprach man von „IT-Enablern und Business Process Management (BPM)“ und jetzt (4.0) ist es die Kombination „Digitalisierung und Prozessautomatisierung„. Letztlich geht es immer um den Zusammenhang technischer Innovationen und Optimierung von Informationsverarbeitungsprozessen.

Auf der technischen Seite ist die Begriffsentwicklung absolut berechtigt. Die Leistungssprünge der Informationstechnologie in den letzten Jahrzehnten sind überwältigend. Auf der methodischen Seite – so weh mir diese Aussage auch tut – ist trotz neuer Bezeichnungen eigentlich alles beim Alten geblieben. Getreu dem Motto „Organisation vor Technik“ sollte man bevor man gleich auf eine Lösung zu Prozessautomatisierung abzielt zunächst folgende 3 Fragen beantworten:

Vorgehen bei der Prozessautomatisierung

1. Um welchen Prozesstyp handelt es sich?

Ob sich eine Technologie dazu eignet, End-to-end-Prozesse oder einzelne Prozessschritte hinsichtlich Qualität, Kosten und Zeit zu verbessern hängt maßgeblich von der Charakteristik der Aufgaben und Entscheidungen sowie deren logische Folgebeziehungen ab. Hierzu habe ich schon in den 90er Jahren eine Prozesstypisierung entworfen und in den letzten Jahren weiterentwickelt. Siehe zuletzt in dem Artikel „Darum gelingt Prozessverantwortung in der Holokratie besser.“ Aktuell gehe ich entsprechend dem Cynefin-Modell von den vier Prozesstypen Simple Prozesse, Routineprozesse, Regelprozesse und Ad-hoc-Prozesse aus. Ausschlaggebend für diese Einteilung sind die Kriterien Wiederholungsgrad, Prozesskomplexität, Determiniertheit, Digitalisierungsgrad, Aufgabenschwierigkeit und Entscheidungsklarheit.

Prozesstypen entscheidend für Prozessautomatisierung

2. Wie hoch ist das Optimierungspotenzial?

Nach der Frage, ob sich ein Prozess von der Charakteristik her überhaupt für eine Prozessautomatisierung eignet, ist unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten zu prüfen, ob sich das Investment lohnt. Dazu ist ein klassischer Soll-Ist-Vergleich notwendig. Beim Ermitteln des Ist-Zustandes kann man auf die bekannten Techniken zur Prozesserhebung, Prozessmodellierung und Prozessanalyse zurückgreifen. Zunehmend fließen technologische Fortschritte wie Data Analytics oder Künstliche Intelligenz (KI) in die Prozessgestaltung und kontinuierliche Prozessoptimierung ein. So kann man beispielsweise mittels Process Mining bzw. Prozess Performance Mining aus IT-Systemen Daten wie Ereignisse oder Zeitstempel lesen, die einem ermöglichen, den realen Prozess mit seinen Mengen, Bearbeitungs- und Durchlaufzeiten, Varianten sowie Kapazitätsauslastungen transparent zu machen.

Im Prozessdesign wird auf Basis der Möglichkeiten verschiedener Automatisierungstechnologien der Soll-Prozess entworfen. Stellt man dann die Einsparungspotenziale oder Qualitätssteigerungen des Prozessentwurfs den Ist-Kennzahlen gegenüber, kann man dann in der Prozessbewertung ermitteln, ob die jeweilige Alternative zur Prozessautomatisierung wirtschaftlich sinnvoll ist. Wird der gesamte Planungszyklus zur Entscheidungsfindung technologisch unterstützt, spricht man von Prozessintelligenz. Noch etwas Zukunftsmusik, aber durchaus realistisch, ist die Endstufe des intelligenten Prozessmanagements. Dann nämlich, wenn sich Prozesse vollkommen automatisch selbst steuern, dann spricht man von Prozessautonomie.

3. Mit welcher Methode und Priorität sollen welche Prozesse automatisiert werden?

Ohne Zweifel ergeben sich in den meisten Unternehmen ganz schnell viele lohnenswerte Automatisierungskandidaten. Dann ist wie immer die Managementphilosophie „Doing right things“ angesagt. Bei der Frage nach den zuerst zu automatisierenden Prozessen besteht die Herausforderung, die jeweiligen Optimierungsansätze im Gesamtzusammenhang zu sehen. Dies geschieht im Rahmen der strategischen Prozessorganisation beim Enterprise Architecture Management (EAM). Hier werden Strategie, Struktur, Prozesse und IT gemeinsam aufeinander abgestimmt. Besonders relevant ist hier die Frage, welche Freiheitsgrade es in der IT insgesamt gibt. Wird bei der Prozessautomatisierung auf grundlegende Veränderungen der IT-Landschaft gesetzt, wie es beispielsweise bei einem Wechsel von einem ERP-System auf eine Orchestrierung von Microservices der Fall wäre, sind wir methodisch eher auf der Business Process Reengineering (BPR)-Seite. In den meisten Situationen wird es aber wohl eher so sein, dass die IT-Architektur gegeben ist. Dann erfolgen die Prozessautomatisierungen im Sinne von Kaizen oder als KVP-Maßnahmen.

Merkmale BPR- und Kaizen/KVP-Methode

Die Priorisierung von Automatisierungsvorhaben findet jeweils für einen vergleichbaren Kontext statt. Gibt es beispielsweise im KVP-Setting ganz viele Ideen Teilprozesse mit RPA zu automatisieren kann man mit Techniken wie ABC-Analyse oder Portfolioanalyse eine Rangfolge festlegen. Siehe zur Frage der Prozesspriorisierung meinen früheren Blog „Sind Wertschöpfungsprozesse immer auch Kernprozesse?“ .

Formen der Prozessautomatisierung

Prozessautomatisierung ist ein weiter Begriff. Ganz grundsätzlich spricht man von Prozessautomatisierung, wenn Maschinen und nicht Menschen Prozessschritte ausführen. Sich von schwerer körperlicher Arbeit als Mensch zu entlasten oder gar zu befreien hat eine zig 1000 Jahre alte Tradition. Diese reicht vom Rad über Aquädukte bis hin zu den Dampfmaschinen im Industriezeitalter. Mit dem Informationszeitalter begann die Phase geistige Arbeit zu automatisieren. Das bedeutete zunächst, dass Menschen bei datengesteuerten Aufgaben durch Technologie unterstützt wurden.

In der jetzt beginnenden Automatisierungsphase werden die Möglichkeiten deutlich erweitert, da jetzt auch zunehmend unstrukturierte Prozesse von Maschinen übernommen werden können. Künstliche Intelligenz, algorithmische Analysen, Big Data und Business Intelligence (BI) eröffnen ganz neue Möglichkeiten datengesteuerte Aufgaben zu automatisieren. Es können große Volumen unterschiedlichster Daten schnell und präzise in verschiedenen Systemen bearbeitet werden, Abweichungen können interpretiert werden, Muster erkannt werden und bisher verborgene Erkenntnisse aus neu digitalisierten Prozessen mittels Processmining gezogen werden.

Folgende drei Formen der Prozessautomatisierung kann man grundsätzlich unterscheiden:

Simple Prozessautomatisierung

Von simpler Prozessautomatisierung spricht man wenn die Aufgaben eines Prozesses sehr gut strukturiert sind und sie sich in immer gleicher Form wiederholen. Es gibt keine bis wenige alternative Wege durch den Prozess. Wenn es Prozessvarianten gibt sind sie in Art und Häufigkeit determiniert. Die in den Prozess eingehenden und im Verlauf verarbeiteten Informationen sowie die den Prozess beendenden Ergebnisse sind bekannt und sehr gut strukturiert. Die zugrunde liegenden Daten sind bereits digitalisiert oder sind entsprechend leicht digitalisierbar.

Die Automatisierung simpler Prozesse ist in letzten Jahren verstärkt mit der RPA-Technologie vorangetrieben worden. Unter Robotic Proces Automation (RPA) versteht man die Automatisierung verschiedener administrativer Aufgaben und Integration von (Teil-)Prozessen durch Software-Roboter (Bots), in dem sie manuelle Arbeitsschritte auf der Ebene der Benutzeroberfläche (UI) ausführen und/oder mehrere Anwendungen mit Algorithmen und Application Programming Interfaces (APIs) interagieren lassen. Aber auch mit Low-Code-Plattformen oder klassischer Anwendungsentwicklung lassen sich simple Prozesse mit relativ wenig Aufwand automatisieren.

Beispiele für Simple Prozessautomatisierung gibt es zuhauf. Repetitive Tätigkeiten wie Stammdatenaktualisierung, Kundendatenpflege, Mahnverfahren, Buchungen, Dokumentenablage, Prüfverfahren, E-Mail-Bearbeitung oder Datenübertragung bieten sich für RPA an. Gerade das stupide manuelle Übertragen von Daten aus einem System ins andere sind geeignete Prozesse für Screen Scraping. An der Kundenschnittstelle können Chatbots erste Standardfragen beantworten.

Regelbasierte Prozessautomatisierung

Regelprozesse sind durch eine hohe Anzahl von Aufgaben und Entscheidungen gekennzeichnet, die auf Basis von strukturierten und unstrukturierten Daten erfolgen. Die Reihenfolge der Aktivitäten ist häufig flexibler und sehr oft abhängig von dem Ergebnis vorgelagerten Aufgaben. oder variabler Einflussfaktoren von außen. Im Unterschied zum Ad-hoc-Prozess ist das Ergebnis vordefiniert. Bisher war es Menschen vorbehalten die unstrukturierten Daten zu verstehen, zu interpretieren und daraus Entscheidungen abzuleiten. Mit den Möglichkeiten der Sprach-, Text- und Bilderkennung, Künstlichen Intelligenz, Machine Learning, Smart Advisors oder Prädiktive Analytik können nun auch diese wissensbasierten Aufgaben und Entscheidungen von Robotern erledigt werden.

Auch Fälle für Regelbasierte Prozessautomatisierungen gibt es en masse. Typisch für Regelprozesse ist, dass das Ergebnis des Prozesses vordefiniert ist, also zum Beispiel Entscheidungen über Bewerber, Anträge, medizinische Behandlungen, Schadensansprüche, Angebote, Lieferungen oder Einkäufe. Für die Auswahl eines Bewerbers gibt es beispielsweise implizite und explizite Kriterien wie Skills, Anforderungen, Assessment-Ergebnisse, oder Gehaltsvorstellungen die im Prozessverlauf über viele Stellen und IT-Systeme hinweg zugrundegelegt werden. Die unstrukturierten Daten aus Bewerbungsunterlagen können zum Beispiel automatisiert erkannt werden und Rules Engines treffen automatisiert eine Vorauswahl.

Intelligente Prozessautomatisierung

Charakteristisch für Ad-hoc-Prozesse ist es, dass jederzeit im Prozessverlauf unvorhergesehene Ereignisse eintreffen können. Regelbasierte Prozessautomatisierungen stoßen dabei an Grenzen, da es für den Roboter keinen Algorithmus gibt. Menschen improvisieren in diesem Fall, lernen von ihren Erfahrungen und agieren intuitiv nach dem „Bauchgefühl“. Die nächsten Entwicklungsstufe der Künstlichen Intelligenz wird mittels hochentwickelter neuronale Netzalgorithmen tiefgreifendes Lernen und die Fähigkeit logisch zu denken ermöglichen. Zukünftige KI-Systeme können sich erinnern, lernen, wahrscheinliche Ausgänge prognostizieren und letztlich autonome Entscheidungen fällen.

Beispiele für Intelligente Prozessautomatisierung sind noch rar. Erste Experimente werden im Bereich von Prozessen mit vielen komplexen Entscheidungssituationen gemacht. Denkbar sind hier Prozesse wie Produktentwicklung, Verhandlungen oder Strategieentwicklungen.

Fazit und Ausblick

Mit Prozessautomatisierung 4.0 habe ich eingangs das ewige Zusammenspiel von Prozessoptimierung und technischen Innovationen angesprochen. Folgende Übersicht gibt eine grobe Orientierung, für welche Prozesstypen die Formen der Prozessautomatisierung geeignet sind und wie das Vorgehen der Prozessautomatisierung organisiert werden sollten.

Wenn man nun die verschiedenen Formen der Prozessautomatisierung im Unternehmenskontext anschaut wird schnell deutlich, dass die eingangs zitierte Vorfahrtsregel „Organisation von Technik“ so einseitig nicht immer gilt. Die methodischen Fragen sind nämlich immer vor dem Hintergrund der technischen Möglichkeiten zu sehen. Es ist also mehr ein Wechselspiel.

Nehmen wir das Beispiel Robotic Process Automation (RPA). Stellt man bei der Prozessanalyse Schwächen an Schnittstellen zwischen IT-Systemen fest, gab es bis jetzt die Möglichkeiten die Medienbrüche per Hand zu überbrücken. Oder es kam die Frage nach grundsätzlich neuer Programmierung der Schnittstellen oder gar komplett neuer integrierter Systeme auf. Diese grundsätzlichen technologischen Ansätze sind natürlich aufwendig, teuer und dauern lange. Vor dem Hintergrund hat man dann entschieden es bei der manuellen Schnittstelle zu belassen. Nun gibt es die neuen Möglichkeiten von RPA. Auf einmal rechnet sich der Business Case anders. Ist der Aufwand für die Installation und das Betreiben der automatisierten Schnittstelle per RPA geringer als die laufenden Personalkosten einer manuellen Datenübertragung ist diese Lösung zu befürworten, auch wenn die durch Roboter gelöste Schnittstelle methodisch immer noch eine Symptombekämpfung ist und durch eine BPR-Lösung wie zum Beispiel einer Serviceorientierten Architektur (SOA) besser gelöst werden könnte.

Deshalb spricht man bei RPA auch häufig von einer Brückentechnologie, weil sie nur in der Phase zwischen einem Technoloigiesprung (BPR) zum nächsten wirtschaftlich sinnvoll ist.

Robotic Process Automation (RPA) als Brückentechnologie

Selbstverständlich ist die Polarisierung mit BPR und KVP extrem dargestellt. Technologisch ist es längst nicht mehr so, dass man mit der Entscheidung für eine IT Landschaft für Jahrzehnte festgelegt ist. Immer mehr Unternehmen setzen auf offene Standards, Open Source oder API-Schnittstellen und können so ganz im Sinne eines agilen Unternehmens Anwendungen und Schnittstellen kurzfristig an neue Situationen anpassen. Hyperautomation und Orchestrierung von Microservices sind hier die Trends der Zeit. Aber das sind Themen für einen nächsten Blog …

1 comments

  1. Danke für sehr spannenden Überblick mit neuen Einblicken

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