Seit 25 Jahren beschäftigt mich nun das Thema Prozessverantwortung. Die ersten 20 Jahre waren eher durch Tiefen als Höhen geprägt. Erst durch die Erfahrungen der letzten 5 Jahre mit differenzierten und agilen Ansätzen habe ich wieder Hoffnung geschöpft, dass das doch noch was gibt mit der kundenzentrierten End-to-end-Prozessverantwortung.
1993 veröffentlichten Michael Hammer und James Champy den Bestseller “Reengineering the Corporation: A Manifesto for Business Revolution“. Der dort erstmalig beschriebene Ansatz, Geschäftsmodelle von Unternehmen fundamental und radikal zu hinterfragen und Kernprozesse konsequent auf die Strategie auszurichten war nicht nur der Auslöser dafür, dass wir heute wie selbstverständlich in wertschöpfenden End-to-end-Prozessen denken. Es war auch die Geburtsstunde des Prozessverantortlichen. Denn auf den Seiten 141-142 der ersten deutschen Auflage stand zu den BPR-Mitwirkenden geschrieben:
Prozeßverantwortliche sind für das Business Reengineering eines spezifischen Unternehmensprozesses zuständig. … Nach Vollendung eines Reengineering-Projektes ist die Arbeit eines Prozessverantwortlichen nicht abgeschlossen. […] Daher muß es auch weiterhin für jeden Unternehmensprozeß einen Verantwortlichen geben, der sich der Prozeßleistung annimmt.”
Der letzte Satz hatte langfristigen Folgen. Seitdem führen weltweit Unternehmen Rollen wie Process Owner, Prozesseigentümer, Prozesseigner oder Prozessverantwortliche ein. Da ich selber 1991 in den Prozessmanagementtrainer/-berater-Job eingestiegen bin begleitet mich das Thema Prozessverantwortung meine gesamte Berufslaufbahn. In über 50 Projekten zur Prozessmanagement-Einführungen spielte das Thema “Rollen im Prozessmanagement” immer eine wesentliche Bedeutung.
In vielen Fällen sind die eingeführten Strukturen zur Prozessverantwortung jedoch keine Erfolgsgeschichte. Zwar gibt es auf dem Papier fast überall Prozessverantwortliche, gelebt wird die auf Kundennutzen ausgerichtete Prozessgestaltung und -steuerung nicht wirklich. Zu den Gründen und möglichen Lösungsansätzen habe ich schon mehrfach hier geschrieben. Siehe zum Beispiel “Prozessverantwortung erhöht die Prozessqualität, aber wie?” oder “Prozessverantwortung – Alternativen zum Highlander”.
Im letztgenannten blogbeitrag habe ich als eine Alternative zur Einzelverantwortung die Team-Prozessverantwortung ins Spiel gebracht. Seinerzeit schwebte mir in Analogie zu mehrköpfig besetzten Lenkungsausschüssen in der Projektorganisation ein mit mehreren Verantwortlichen besetztes Gremium vor, das über Abteilungsgrenzen hinweg Prozesse ent-to-end gestaltet und steuert. Die eigenen Erfahrungen mit der Selbstorganisation in den letzten fünf Jahre haben mir ganz neue Möglichkeiten einer Teamprozessverantwortung aufgezeigt.
Von den Ups and Downs auf dem Weg von einer Scrumorganisation bis hin zu meiner Unterschrift unter die holokratische Verfassung haben wir schon häufiger berichtet siehe hier ->. In der aktuellen Ausgabe der zfo gibt es hierzu auch ein Interview mit mir siehe hier ->. Hier gehe ich jetzt speziell auf die Aspekte der Holokratie ein, die das Prozessmanagement betreffen. Bei folgenden drei Prinzipien aus der Holokratie sehe ich erfolgsversprechende Möglichkeiten, Prozessverantwortung in Zukunft erfolgreicher zu leben.
1) Prozessgestaltungsverantwortung im Governance-Meeting
Im Unterschied zur klassischen Hierarchie wird in der Holokratie die Regelmacht nicht an einzelne Führungspersonen oder Gremien verteilt sondern an einen in der Holacracy-Verfassung festgelegten Prozess. In diesem Governanceprozess ist geregelt, wie jeder im Unternehmen organisatorische Gestaltungsfragen zu Rollen, Prozesse oder Regelungen vorschlagen und zur Entscheidung bringen kann. Der entsprechende Platz hierfür ist das Governance Meeting. Ausgangspunkt jeder Änderung ist eine Spannung. Eine Spannung ist ein wahrgenommener Unterschied zwischen wie es ist und wie es sein könnte. Bezogen auf die hier im Fokus stehenden Prozessregelungen könnte das beispielsweise bedeuten, das eine Rolle die Spannung hat, dass es nicht geregelt ist, von welcher Rolle ein notwendiger Prozessschritt erwartet werden kann oder wer hier die Entscheidungskompetenz hat.
Nehmen wir als Beispiel einen Lieferantenmanagementprozess für komplexe Großaufträge. Der Material Manager stellt im Rahmen seiner Angebotseinholung fest, dass er immer wieder juristische Fragen zu EU-Ausschreibungen hat, die ihn hindern voranzukommen. Da bisher nicht klar ist, von welcher Rolle er diese Expertise erwarten kann macht er im Governance-Meeting seines Einkaufskreises einen Vorschlag. Dieser Vorschlag könnte beispielsweise eine neue Rolle mit den gewünschten Fähigkeiten sein oder eine Policy in welcher Form externes Know-how hinzugezogen werden kann.
Der Governance-Prozess läuft immer nach dem gleichen Schemata ab, das vom Facilitator streng eingehalten wird. Nach dem Vorstellen des Vorschlages gibt es zunächst Verständnisfragen die der Vorschlagende direkt beantworten kann. Im Anschluss gibt es eine Reaktionsrunde, in der nicht diskutiert wird. In der abschließenden Runde können Einwände von Rolleninhabern eingebracht werden, wenn sie sich durch den Vorschlag in der Wahrnehmung ihrer Rollen beeinträchtigt fühlen. Sofern diese Einwände valide sind, werden sie gemeinsam in einen neuen Vorschlag integriert. Entsprechend dem Soziokratie-Prinzip ist der Vorschlag angenommen, wenn es keinen validen Einwand mehr gibt. Nach dem Motto „safe enough to try“ wird der Vorschlag sofort gültig und allen sofort transparent gemacht.
Im vorliegenden Beispiel wurde von einer neuen eigenen Rolle oder Erweiterung einer bestehenden Rolle abgesehen, weil es berechtigte Einwände des Hausjuristen gab, die juristische Expertise für EU-Ausschreibungen im eigenen Unternehmen ständig aktualisiert vorrätig zu halten. Da bisher aber auch nicht klar war, in welchem Umfang ein Einkäufer selber auf externe juristische Beratung zurückgreifen kann wurde das in einer Policy geregelt. Die Spannung des Einkäufers war damit gelöst, er konnte seinen Prozess sofort vorantreiben.
Prozessgestaltungsverantwortung wird also nicht von im Stab sitzenden Organisatoren oder über Linienvorgesetzte wahrgenommen sondern von den im Governance-Meeting anwesenden Rollen. Schneller, sprich agiler, können Prozesse nicht gestaltet werden. Und akzeptierter allemal.
2) Prozessdurchführungsverantwortung durch stark besetzte Rollen

Für Prozesse, die durch VUCA-Rahmenbedingungen gekennzeichnet sind und deren auslösende Probleme dem Cynefin-Modell folgend komplex oder gar chaotisch sind verbietet es sich Routineabläufe mit dem Scientific Management zu designen und zu managen. Zum einen, weil die Volatilität und Unsicherheit jeden Prozessplan schnell über den Haufen wirft. Zum anderen weil die Komplexität und Ambiguität des Prozesstriggers ein analytisches Sezieren und Zusammensetzen der Problemstellung verhindert, da es keine eindeutigen Ursache-Wirkungs-Beziehungen gibt.
Was aber kann man tun, solche durch VUCA-Herausforderungen entstehenden Ereignisse in Unternehmen organisiert zu bearbeiten? Die einzige sinnvolle Chance besteht darin, Menschen diese Aufgabe zu übergeben und darauf zu vertrauen, dass diese in der jeweiligen Situation richtige Entscheidungen treffen und aus den gemachten Erfahrungen schnell Schlüsse für den nächsten Prozessschritt ziehen. Für die Führung bedeutet dies vor allem, die richtigen Talente auszuwählen und diesen den Rahmen zu ermöglichen, ihre Rolle selbstorganisiert bestmöglich auszuleben. Das Management-Verständnis basiert hier also eher auf den Prinzipien des Servant Leadership sowie Sense and Respond. Beim Gestalten und Durchführen von Prozessen nutzen die Akteure Werkzeuge wie Design Thinking, Customer Journey, Scrum oder Kanban, die den agilen BIWAKS-Prinzipien entsprechen. Siehe hierzu auch meinen letzten Blog Agiles Prozessmanagement – oder wie agil ist das ibo Prozessfenster®.
In der Holokratie finden sich diese Prinzipien wieder, in dem Leadlinks Rollen nach den Stärken der jeweiligen Menschen besetzen. Übernimmt ein Mitarbeiter eine Rolle, treibt er die sich aus Purpose, Domain und Accountabilities ergebenden Aufgaben eigenverantwortlich voran. Entweder nach standardisierten Regeln oder – und das ist für den hier im Fokus stehenden Fall dynamischer und komplexer Herausforderungen wichtig – eigenverantwortlich nach bestem Wissen und Gewissen ohne vorgegebene Schrittfolge. Benötigt er andere Rollen für das Voranbringen des Prozesses geht er entweder direkt auf die Rollen zu oder klärt die next actions in Tactical Meetings. Während also im Governance Meeting wie oben beschrieben am System gearbeitet wird, wird im Tactical Meeting das operative Geschäft koordiniert (Arbeiten im System).
3) End-to-end-Prozessverantwortung durch Holarchie
In der Holokratie ist die Organisationsstruktur eine Holarchie. Eine Holon ist ein Ganzes, das Teil eines größeren Ganzen ist.
Beim menschlichen Körper ist beispielsweise eine Zelle ein selbständiges Ganzes und Teil eines größeren Ganzen, dem Organ. Organe wiederum sind autonome Ganze die Teile eines größeres Organismus sind.
Die Verbindung dieser Holons ist die Holarchie. Sie wird über ineinandergreifende Holons sowie eine wechselseitige Verbindung über Leadlinks und Replinks gewährleistet. Wer in die Funktionsweisen und Besonderheiten der Holarchie tiefer einsteigen möchte, dem empfehle ich das Originalbuch von Brian Robertson Holacracy: Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt.
Für die hier im Raum stehende Hypothese, dass Prozessverantwortung in der Holokratie besser gelingen kann möchte ich zwei Aspekte der Holarchie näher beleuchten:
- Trennung von Mensch und Rolle
Hierarchische Strukturen, in denen Menschen als Führungskräfte über- und untergeordnet werden, führen zu Silodenken, Abteilungsgräben und Bereichsdenken. Prozesse können so nur schwer übergreifend verantwortet werden. Da es ein zentrales Anliegen der Holokratie ist, die Arbeit und nicht die Menschen zu organisieren, trennt die Holarchie strikt Rolle und Mensch. Weil Personen mehrere Rollen in verschiedenen Kreisen einnehmen können, fällt das Phänomen des Ab-teilens weniger ins Gewicht. Auch um übergreifende Aspekte aufeinander abzustimmen hilft das Rollenkonzept. Um Super- und Sub-Kreise ineinander sowie Kreise miteinander zu verbinden sieht die Holarchie eigene Rollen wie Lead-, Rep- und Cross-Link vor. Dabei gilt, dass zum Beispiel der Leadlink kein Vorgesetzter eines Mitarbeiters ist, der nach dem Command and Control-Prinzip Anweisungen an Mitarbeiter gibt. Vielmehr richtet er den Kreis am purpose aus.
Da es also in der Holarchie nicht mehr um Entscheidungsbefugnisse, Macht und Status eines Menschen sondern um sachliche Anforderungen an eine Rolle beim Vorantreiben eines Prozesses geht, treten die strukturell bedingten zwischenmenschliche Konflikte in den Hintergrund. Die Ausrichtung auf den Purpose – meist ein Kundennutzen – überstrahlt Pöstchendenken und Machtkämpfe. Freilich ist man auch in der Holokratie nicht vor zwischenmenschlichen Konflikten geschützt. Deshalb ist man gut beraten, neben der Holokratie als Organisationssystem kulturelle und persönliche Entwicklungsmaßnahmen wie GfK (Gewaltfreie Kommunikation) oder Theory U (Ebenen des Zuhörens/Presencing) anzugehen.
- Das Prinzip des ganzen Holons:
Das kommt der Idee von End-to-end-Prozessen sehr entgegen. Einem Purpose einer Rolle oder eines Kreises zu folgen bedeutet in der Regel, diesen mit ganzheitlichen Aufgabenketten umzusetzen. So kann entweder eine einzelne Rolle einen Prozess „fallabschließend“ vorantreiben oder die Rollen innerhalb eines Kreises. Auch die in Kreisen verfolgten metrics in Form von OKR’s entsprechen häufig eher der Idee von Prozesskennzahlen als den sonst üblichen Finanzkennzahlen.
Hat beispielsweise die Rolle oder der Kreis Lieferantenmanagement den purpose, die Beziehung zu strategisch wichtigen und zu schwer substituierbaren Lieferanten dauerhaft zu stärken, sind alle Teilprozesse von der Bedarfs- und Anforderungsermittlung über Lieferantenidentifikation-, bewertung und –auswahl bis zur Optimierung der Zusammenarbeit auf diesen Zweck ganzheitlich auszurichten. Mögliche metrics könnten Prozesskennzahlen wie Termintreue der Lieferanten oder Anzahl Reklamationen je Lieferant sein.
Fazit:
Auch wenn es für viele Unternehmen (noch) nicht vorstellbar oder sinnvoll sein mag, ihr Betriebssystem radikal auf Holokratie umzustellen, so sollten sie dennoch ganz im agilen Sinne mal einzelne Aspekte aus diesem Ansatz wie beispielsweise soziokratische Entscheidungsfindung oder Purpose-Ausrichtung ausprobieren. Mit jedem umgesetzten Aspekt steigt die Chance, das die Verantwortung für die Prozessgestaltung und -durchführung von End-to-end-Prozessen besser gelingt. Insgesamt liegt mit der Holokratie ein Organisationsansatz vor, der der Idee der Prozessorientierten Aufbauorganisation im Hammerschen Sinne recht nahe kommt. Nur eben ohne klassische Hierarchie. Na wenn das kein schönes Geschenk zum 25. Geburtstag von Hammer/Champy´s BPR-Buch ist.